Blinde und sehbehinderte Frauen für Brustkrebsfrüherkennung

Blinde und sehbehinderte Frauen erkennen mit ihrem feinen Tastsinn kleinere Gewebeveränderungen oft besser als Ärzte. Das Startup discovering hands® setzt diese nun erfolgreich in der Brustkrebsfrüherkennung ein.

Grüne Startups: Herr Helf, stellen Sie doch bitte Ihr grünes Startup „discovering hands“ kurz vor.

ARNDT HELF: Der Mülheimer Gynäkologe Dr. Frank Hoffmann gründete das gemeinnützige Unternehmen discovering hands®, um die Brustkrebsfrüherkennung zu verbessern. Sein Konzept beruht darauf, dass blinde und sehbehinderte Menschen einen stark verfeinerten Tastsinn haben. Aus einer Behinderung wird eine Begabung: Nach einer neunmonatigen Qualifizierung zur Medizinischen Tastuntersucherin (MTU) finden die blinden Frauen bis zu 50 Prozent kleinere Gewebeveränderungen und bis zu 30 Prozent mehr als Ärzte. Die Fortbildung zur MTU erfolgt in qualifizierten Berufsförderungswerken. Derzeit sind etwa 20 MTU an knapp 30 Standorten in Facharztpraxen und Kliniken beschäftigt.

GS: Sie sind nominiert für den Next Economy Award 2016. Was denken Sie, war der ausschlaggebende Grund für Ihre Nominierung?

AH: Unser Geschäftsmodell ist innovativ und einzigartig: Frauen mit einer schweren Behinderung können auf dem ersten Arbeitsmarkt eine qualifizierte, sehr sinnvolle  Tätigkeit ausüben und haben eine feste Anstellung sowie gesellschaftliche Anerkennung.  Aufgrund ihrer besonderen Tastfähigkeit tragen sie dazu bei, Brustkrebs frühzeitig zu erkennen und behandeln zu können – und sogar Leben zu retten.

GS: Welches „grüne“ Problem lösen Sie und welche Vision steckt hinter Ihrem Konzept?

AH: Wenn wir „grün“ weiter fassen als „ökologisch sinnvoll“, können wir es so formulieren, dass wir als soziales Integrationsunternehmen wegweisend im Bereich Inklusion sind, denn wir beschäftigen ausschließlich behinderte Menschen. Und wir bieten Frauen eine zusätzliche Möglichkeit, Brustkrebs – eine häufige Todesursache –in einem sehr frühen Stadium zu erkennen. Damit helfen wir nicht nur den Patientinnen, sondern vermeiden oftmals hohe Behandlungskosten und entlasten das Gesundheitssystem. Man könnte sagen, wir schaffen eine win-win-win-Situation.

GS: Wie geht es Ihrer Branche aktuell?

AH: Wie es der Gesundheitsbranche geht, ist sicher allen bekannt. Speziell für die Frauenärzte sind wir hilfreich, denn eine Medizinische Tastuntersucherin kann sich für eine Patientin etwa 45 Minuten Zeit nehmen, während der Gynäkologe während der jährlichen Vorsorgeuntersuchung nur zwei, drei Minuten Zeit hat, um die Brust abzutasten. So bieten die MTU eine echte Bereicherung für das Behandlungsspektrum der Praxen.

GS: Wie sieht Ihr Geschäftsmodell aus?

AH: Wir qualifizieren geeignete Bewerberinnen in speziellen Berufsförderungswerken für die ärztliche Assistenztätigkeit der MTU. Nach bestandener Prüfung stellen wir sie fest und unbefristet ein und „verleihen“ sie an wohnortnahe Frauenarztpraxen und Kliniken. Die Praxen können jeweils ihren eigenen „MTU-Tag“ für ihre Patientinnen einrichten. Bisher übernehmen 12 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen die Untersuchungskosten in Höhe von 46,50 Euro. Daraus können wir keine Erträge für uns ableiten. Diese erzielen wir jedoch durch den Verkauf der für jede Untersuchung benötigten taktilen Orientierungsstreifen an die Gynäkologen oder Kliniken. Die MTUs sind bei ihren Untersuchungen genau darauf geschult und benötigen diese Orientierungsstreifen zwingend.

GS: Was waren und was sind die größten Herausforderungen für Ihre Unternehmung auf dem bisherigen Weg?

AH: Da die Geschäftsidee des Gründers und Hauptgesellschafters von discovering hands, Dr. Frank Hoffmann, völlig neu war, musste er sämtliche Strukturen schaffen, um seine bestechende Idee praktisch umzusetzen: ein Curriculum für die Qualifizierung entwickeln, Möglichkeiten zur Finanzierung finden, das Projekt in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit bekannt machen, Partner  finden – etwa die Universität Essen, die untersucht hat, ob MTU tatsächlich kleinere und mehr Gewebeveränderungen finden als Ärzte –, niedergelassene Kollegen und Krankenkassen von der Sinnhaftigkeit überzeugen.

Die größte Herausforderung besteht aktuell darin, weitere blinde und sehbehinderte Frauen zu finden, die diesen Beruf ergreifen möchten. Die Nachfrage der Patientinnen ist viel höher als die Zahl der Untersuchungen, die wir anbieten können. In vielen Städten und Regionen Deutschlands haben wir noch keine Praxen und keine MTU, die Frauen untersuchen können. Unter anderem deswegen sind wir so froh über die Nominierung zum Next Economy Award, weil sie eine weitere Öffentlichkeit schafft und hoffentlich noch viel mehr Menschen von uns erfahren.

GS: Wie ist Ihr Gründerteam aufgestellt? Welche fachlichen und sozialen Kompetenzen waren für den bisherigen Erfolg ausschlaggebend?

AH: Unser Gründer Dr. Frank Hoffmann hat bereits während der Projektphase Unterstützung durch zwei damalige McKinsey Berater erhalten, die aufgrund ihrer Überzeugung vom Konzept dann auch in eine Gesellschafterfunktion eintraten. So konnten wir schon frühzeitig unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen erfolgreich und zielführend bündeln. Seit einem Jahr sorge ich als Geschäftsführer mit hoher unternehmerischer und vertrieblicher Ausrichtung für den weiteren Roll-Out unseres Konzepts. Dabei greifen wir zurück auf top qualifizierte und vor allem überzeugte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die natürlich auch über hohe empathische Fähigkeiten verfügen. Diese sind für den Umgang mit unseren MTUs, aber auch mit Patientinnen, die mit uns in Kontakt treten, sehr wichtig.

GS: Suchen Sie aktuell Mitarbeiter und wenn ja, welche Qualitäten sollten diese mitbringen?

AH: Wie oben bereits erwähnt, suchen wir dringend weitere blinde und sehbehinderte Frauen, die MTU werden möchten.

GS: Wo soll die Reise für Ihr Startup in den nächsten 3 Jahren hingehen?

AH: Wir haben viel vor, unter anderem eine Art Weltreise: Wir haben bereits mittels unseres Franchise-Systems Pilotprojekte in Indien und Kolumbien etabliert und loten zurzeit aus, in welchem südamerikanischen Land wir das ebenfalls tun können. Auf Deutschland bezogen: Bis 2019 möchten wir in Deutschland noch mehr als 100 MTU einstellen. Wir wollen unbedingt dazu beitragen, dass Brustkrebs bei noch mehr Frauen schon in einem sehr frühen Stadium erkannt werden kann.  Wir setzen unsere Idee als Sozialunternehmen erfolgreich um und unser Thema ist weltweit von großer Bedeutung. Dass wir schon mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden, stärkt uns den Rücken und wir sind zuversichtlich, unsere Ziele erreichen zu können.

GS: Zum Abschluss: Welchen Tipp möchten Sie zukünftigen Gründern mit auf den Weg geben?

AH: Sie sollten den Mut haben, auch mit ungewöhnlichen Ideen an den Start zu gehen – aber zugleich realistisch prüfen, ob ihr Vorhaben am Markt wirklich eine Chance hat. Ich rate dazu, dass man unbedingt fremdes Geld zur Finanzierung der Idee akquiriert, ohne selbst „Haus und Hof“ zu riskieren. Dazu muss man fremde Geldgeber von der Sinnhaftigkeit überzeugen, und das gibt dann auch die Sicherheit, dass die Idee wirklich gut genug ist.  Gründer sollten fundierte Fachkenntnisse haben, aber auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse und sich von Fachleuten beraten lassen. Außerdem benötigen sie Durchhaltevermögen und müssen von der Sinnhaftigkeit ihrer Idee überzeugt sein. Wer nur nach schnellem Geld schielt, wird wahrscheinlich scheitern. Und, ganz wichtig: Es muss Spaß machen, denn ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, ist eine Herausforderung.

Vielen Dank 

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